Montag, 28. Januar 2013

"Django Unchained" [USA 2012]


Zuerst die Namen. Gigantisch werden sie über die gesamte Breite des Bildes gezogen. Quentin Tarantino. Jamie Foxx. Christoph Waltz. Leonardo DiCaprio. Samuel L. Jackson. Sie wirken wie die Riesenpflanzen, die aus dem Boden geschossen kommen und vollständig ausgewachsen sind. Wir sehen diese Namen, können nicht wegschauen, wir werden gezwungen sie zu sehen, weil vom Restbild nichts mehr übrig bleibt, das es zusätzlich zu sehen gibt, so erhaben, so überzeichnet schmiegt es sich der dahintreibenden Landschaft im Hintergrund an. Nicht die Landschaft verschluckt. Die Schrift schluckt die Landschaft.  

Das kreischende Django-Theme glorifiziert unterdessen den Einstiegsmoment eines Liebhabers, der bereits mit Hilfe der Schriftzüge seine Liebe zum Kino und dessen heroische Draufgänger und schillernde Champions kinematografisch bekundet, und der auch in "Django Unchained" zum zweiten Mal innbrünstig von der gefährlichen Dimension der Liebe erzählt. Seine Adjutanten, seine Helfershelfer, diese überdimensionierten Namen, wirken wie Götter, die sich im Western zufällig verirrt haben. Und wir werden diesen Göttern folgen. Und notfalls mit ihnen quatschen.

In "Django Unchained" geht es fortwährend viel um Liebe. Nach "Jackie Brown", Tarantinos wahrhaftigem Liebesgedicht an Pam Grier und dem schwarzen weiblichen Kino, schreibt er nun in "Django Unchained" ein wahrhaftiges Liebesgedicht an Django, dem kultigen Kopfgeldjäger, füllt aber auch die Adresszeile des Briefempfängers auf: Die schwarze Bevölkerung per se ist um einen Brief gefragt, der nur aus Liebe besteht. Wie ähnlich sich "Jackie Brown" und "Django Unchained" nicht nur von der Hautfarbe, sondern vielmehr aufgrund der Eigentümlichkeit einer elegischen Liebeserklärung sind, reflektiert Tarantino bereits in der Einführung des jeweiligen titelgebenden Antihelden, indem er sie formal spiegelt.


Sowohl Pam Grier als auch Jamie Foxx werden in langsamen Schwenks von der Seite gezeigt, wohingegen die Zeit an ihnen vorbei zu schwimmen scheint. Grier auf Rolltreppen, Foxx gefesselt, beide sehen müde aus, innerlich ausgemergelt, und beiden eröffnet sich eine Existenzperspektive eines besseren, erfüllenden Lebens. Beide sind jedoch moralisch zweideutig zu lesen, weil sie, um ihr Ziel zu erreichen, eben moralisch differenzierter handeln müssen, damit eine innerfilmische Liebesbeziehung zustande kommt, die schlussendlich ihre Erfüllung in der (eskapistischen) Flucht mit der Liebe im Herzen findet, wenn der Film endet: Grier im Auto, lächelnd; Foxx auf dem Pferd, glücklich. Herausgekommen ist Tarantinos zweiter afroamerikanischster Liebesbeweis an das schwarze männliche Kino, märchenhafte, lediglich semipolitische (im Grunde gleicht die angerissene Sklavenkritik mehr einem MacGuffin), nur bedingt westernspezifische Poesie über Menschen von der Sorte, dass der gewinnt, der zunächst alles verloren glaubte.

"Django Unchained" schließt überdies an die visuelle Erdung "Jackie Browns" an. Die stilistische Ausnahme im letztgenannten Film dürfte die dreifach getaktete Shopping-Sequenz sein. "Django Unchained" wiederum bricht mit der überkochenden, orgiastischen Ausdrucksenergie eines Quentin Tarantino dort, wo er an einer Stelle eine anachronistische Texttafel einblendet, die über das weitere Geschehen aufklärt. Sonst mäandert der Film innerhalb eines abgesteckten dramaturgischen Rahmens durchaus subtil in der naturalistischen Bilderstürmerei des Westerns (Lagerfeuer und unzählige Bergketten gehören dazu).

Vorrangig durch wabernde Blutsäfte sowie spritzende Blutstreifen (das grotesk rot gestrichene Zimmer), Schnee, donnernden Rock und ironische Trotteleien widerspricht der Film trotzdem dem Topoi einer genreimmanenten Zweierfreundschaft wenn nicht äußerlich vollständig, so doch teilweise. Das Schöne daran ist, dass es Tarantino wieder schafft, über bloße postmoderne Eierschaukelei, über den bloßen unabänderlichen Eindruck des Moments, hinaus zu gelangen, hin zu einer Ebene, die das für sich allein stehende Abfertigen von Seheindrücken und cinephilen Erfahrungen einen singulären Formwillen in einem eigenen tobenden, ungestümen Universum generiert, der nahezu einmalig alles mit allem mehrdeutig collagiert.


Zu bedenken wäre allein schon diese assoziative Intertextualität! Irgendwann tuckern die Kutsche und ihr Gespann den Weg entlang. Hip-Hop verfremdet die Situation. Ausgerechnet Hip-Hop, das keinen Bezug herstellen mag und jenem Selbstzweck untergeschoben scheint, den eigenen unorthodoxen Musikgeschmack zu bestätigen und letztlich abzufeiern. Doch wo es im Hip-Hop, im Rap neben sozialkritischen Inhalten auch um das Thema der Straße geht, um ihre tödliche Beschaffenheit und deren Gefahr, immer wieder zu ebendieser zurückzukehren, ergibt es Sinn, dass die Kutsche und ihr Gespann auf dem Weg, auf der Straße vor allem, einer Musik entgegenfahren, die meist von (amerikanischen) Künstlern interpretiert wird, deren oberflächliche, ausgestellte Merkmale wie ihr Gold- oder Silberschmuck und schnelle Autos gern als Maskerade forciert werden – in diesem Film ist es dann die Kutsche, die sich völlig unbefangen und sehr, sehr stolz zum Zeigeobjekt eigener Schaumschlägerei in den Weiten des Raums affirmativ darstellt. Mustergültig codiert.

Als wäre das nicht genug, jongliert Tarantino gewohnt mit den Qualitäten mythologischer Versatzstücke (nordische Erzählungen, der Walkürenritt), putzigen Kurzauftritten (Tarantino, Franco Nero) und teutonischer Spitzbübigkeit (zwischen Deutschland und dem Nachbarn Österreich), die er oft karikiert und in den Dienst stellt, nicht vordergründig aus der Popkultur zu schöpfen, sondern ebenso die Kulturgeschichte zu plündern, um dahin zu gelangen, eine der Trivialität enthobene Verweissprache zeitlich auszuweiten, die selbstständig und ohne Hilfe die eindrücklichen Bilder erschafft: Der wackelnde Zahn etwa. Django (Foxx) setzt sich in einer anderen Szene vor der Explosion die Sonnenbrille auf oder ist dann wieder kurz davor, eine Träne zu verdrücken. Wir wissen, das ist cool oder traurig, aber es ist auch eine ganz besondere persönliche Ästhetik, ein postmoderner Heldenmythos, aus dem thematisch Zusammengesetzten davor.

Obgleich "Django Unchained" erzählerisch einem Novum ähnelt – Tarantino erzählt auf seine unkonventionelle Weise in gleichmäßigen chronologischen Schritten –, ist nicht zuletzt die Ablöse Sally Menkes im Schnitt verantwortlich, dass Tarantino genauso in der Zeit voranspringt, wie er dies seit "Reservoir Dogs" zu tun gedenkt: Der Schnitt Fred Askins wirkt unsauber, holprig und ist kaum am eleganten Übergang zweier Einstellungen interessiert. Er wirkt ruppig und rabiat, aber auch dem grimmigen Westernsujet angemessen. Etwas Authentisches und Reines hat das, und es ist schwer zu leugnen, dass der sprunghafte Schnitt wieder einmal die an und für sich stringente Geschichte in viele kleinere und größere, wichtigere und unwichtigere Einzelsegmente zersplittert, in raffinierte Kurzgeschichten und dem Sinn der nächstfolgenden Situation entgegenlaufende Abschweifungen (der Kapuzengag), was in aller Konsequenz schließlich dem Showdown eine zerstörerische Kraft verleiht, die nach dem eigentlichen Höhepunkt einen weiteren und noch einen weiteren blindlings anhängt.


Dort werden die Erzählbrüche wahrscheinlich am deutlichsten. Der minutiöse Szenenaufbau vom debattierenden Dialog (beim "Totenschädel-Dinner"), der durch sein psychologisches Gewicht vor latenter Anspannung nahezu explodiert, zum kaltschnäuzigen Dialog, dessen Wörter diesmal aus Waffen abgefeuert werden, erinnert bewusst an die Kneipenszene oder die breitgetretene Kinosequenz aus "Inglourious Basterds" und an so viele markante Tarantino-Situationen aus den unterschiedlichsten Filmen, dass das in drei Akte eingeteilte Antiklimax-Finale in "Django Unchained" keine Drehbuchschwäche bedeutet, sondern mit Hilfe des Schnitts eine Zerfaserung und Zerdehnung ins Unendliche erfährt, die sich, entgegen aller Tarantino-Vorgängerwerke, noch einmal steigert und fast in die Abstraktion kippt. 

Infolge der Besetzung hat Tarantino insbesondere mit dem hemmungslos chargierenden, gegen den Strich gecasteten Leonardo DiCaprio einen Coup gelandet. Denn dieser Leonardo DiCaprio schmückt als einziger den Kontrast eines süffisanten Bösewichts, der kein Bösewicht ist – er heißt "Candie" und ist immer süß und sauer, aber nie tödlich scharf. Er ist ein Plantagenbesitzer, versinkt jedoch mit jeder weiteren Minute in eine bockige Haltung, die einem Kleinkind zugemutet wird, das angesichts eines verlorenen Schnullers die Tränen wasserfallartig fließen lässt. Dieser Candie braucht nicht bedrohlich zu sein, um bedrohlich zu handeln; er braucht nur bedrohlich zu gucken, um zu wissen, dass sich dahinter nur ein verkniffener Ausdruck von gezwungener Autorität verbirgt. Dazu passt es auch, dass die angesteckte Blume, ausgerechnet etwas Süßes und Unschuldiges, seinen Abgang besiegelt.  

Tarantino komplettiert seinen Film mit einem sardonischen Christoph Waltz, der der Prestigerolle Hans Landas Facetten hinzufügt, die aus einem quirligen Quatschkopf einen kultivierten Kunstversteher in der Prärie machen, ohne diesmal allzu dick aufzutragen, wohingegen Jamie Foxx einen melancholisch-passiven Django verkörpert, der sich seine Coolness erst Stück für Stück erarbeiten muss. Zusammen mit einem (wirklich!) bedrohlichen Samuel L. Jackson in einer furiosen Paraderolle wurde im Kino lange nicht mehr so realistisch und kinetisch gestorben und erschossen. Es scheint, als ob sich Tarantino jedes Mal neu entdeckt und die postmoderne Kinotranszendenz für sich gepachtet hat. Das ist der Unterschied, und das ist Magie, die mit sich selbst und dem Zuschauer euphorisch tanzt.    

8 | 10